Wir bewunderten die Republik, die unter den Verhältnissen von 1923 ein großer revolutionärer Durchbruch darstellte, und wir verteidigten sie, obwohl sie uns sehr schlecht behandelte. Als sie durch Putsche verwundet wurde, versuchten wir, sie zu stabilisieren, wir kämpften für ihre Entwicklung und Demokratisierung. Aber wir haben uns nie vorstellen können, dass es so weit kommen würde, wie heute.
Heute ist nur noch wenig von den Errungenschaften der Revolution 1923 übrig: Der Laizismus, das wichtigste Rückgrat der Republik, hat durch eine islamistische Regierung einen schweren Schlag ertlitten. An Stelle von Aufklärung und Bildung sind vermeintlich religiöse Denkweisen getreten. Die Gewaltenteilung wurde durch eine vom Palast aus regierende Ein-Mann-Autokratie ersetzt. Es gibt keine Unabhängigkeit der Justiz. Die Pressefreiheit wurde abgeschafft und die Medien sind zu einem verlängerten Arm der Regierung geworden. Anstelle der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist ein feudales Verständnis getreten, das die Frau als Erzieherin der Kinder sieht. Die Versammlungsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Demonstrationsrecht sind unter der Kontrolle eines Polizeistaats praktisch zerstört worden. Das Parlament ist mit einer erdrückenden Mehrheit der Regierungspartner in eine symbolische Arena verwandelt worden.
Führende politische Oppositionelle, Bürgervertreter, führende Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, sowie Journalistinnen und Journalisten, Intellektuelle und Literaten wurden inhaftiert. In der Folge verlagerte sich sämtliche Staatsgewalt in die Hände von Erdoğan, der eine religiös begründete Autokratie errichtete.
Weder eine massive Volksbewegung wie bei Gezi, noch ein Putschversuch wie im Jahr 2016, oder eine Wahl, die von fast allen Oppositionsparteien gemeinsam organisiert wurde, reichten aus, um die Republik aus dieser Zange zu befreien. Das Regime, das die staatliche Verwaltung, die Polizei, die Armee und alle ihre Institutionen sowie die Medien, die Justiz und das öffentliche Vermögen kontrolliert, höhlt die Republik trotz eines „Nein“ der Hälfte des Volkes weiter aus. Und die westliche Welt verschließt angesichts ihrer kommerziellen, militärischen und strategischen Interessen die Augen vor dieser Autoritarisierung und schafft damit den Boden für den Zusammenbruch der türkischen Demokratie. Mit diesem traurigen Bild begingen wir den 100. Jahrestag der türkischen Republik. Unser Kampf für eine demokratische Türkei wird trotz allem weitergehen.
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