Ein ähnliches Beispiel ist der HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa. Noch vor zwei Monaten war er ein „Terrorist“, welcher mit einer Kopfgeldprämie gesucht wurde. Letzte Woche jedoch empfing er die Außenminister Deutschlands und Frankreichs in seinem Palast.
Ein ähnlicher Wandel vollzieht sich derzeit in der Türkei. Abdullah Öcalan, Anführer der PKK, der seit 40 Jahren gegen den türkischen Staat kämpft und für den Tod von über 30.000 Menschen verantwortlich gemacht wird, könnte sich von einem „Terroristen Nummer Eins“ zu einem „Staatsmann“ wandeln.
Öcalan, der seit 25 Jahren unter harten Haftbedingungen im Gefängnis sitzt, wurde überraschend von seinem schärfsten Widersacher, dem Vorsitzenden der nationalistischen MHP, Devlet Bahçeli, eingeladen, im Parlament zu sprechen. Diese Einladung im Oktober löste landesweit Schockwellen aus. Doch bald wurde klar, dass hinter dieser Geste ein größerer Plan steckt.
Die türkische Regierung, die einen möglichen Regimewechsel in Damaskus witterte, erkannte, dass die von ihr über Jahre unterstützten islamischen Dschihadisten die Macht übernehmen könnten. Während sie weiterhin auf den Sturz Assads setzte, begann sie gleichzeitig nach Lösungen für das Problem der kurdischen Selbstverwaltung in der Rojava-Region zu suchen, die sie als Bedrohung ansieht. Da die bisherigen grenzüberschreitenden Militäroperationen keine nachhaltigen Ergebnisse brachten, wurde diesmal ein anderer Ansatz gewählt. Öcalan, der großen Einfluss auf die Kurden in Nord-Syrien hat, sollte als Trumpfkarte genutzt werden. Mit seiner Hilfe plante die Regierung, diesen Einfluss in einen Vorteil zu verwandeln und die Krise in Syrien als Chance zu nutzen. So könnte nicht nur der seit 40 Jahren andauernde bewaffnete Konflikt beendet und die PKK zur Aufgabe ihrer Waffen bewegt werden, sondern auch eine Amnestie für Öcalan und andere PKK-Mitglieder auf die Agenda kommen.
Dieses „Win-Win“-Projekt hat jedoch eine weitere, bislang unausgesprochene Dimension: Nach der aktuellen Verfassung kann Erdoğan nicht erneut als Präsident kandidieren. Für eine Verfassungsänderung fehlen ihm und seinen Koalitionspartnern jedoch die notwendigen Stimmen. Sollte es Erdoğan jedoch gelingen, die DEM-Partei, die vor allem von kurdischen Wählern unterstützt wird, auf seine Seite zu ziehen, könnte er eine Verfassungsänderung durchsetzen und erneut kandidieren.
Letzten Monat besuchte eine Delegation der DEM-Partei zunächst Öcalan auf İmralı, danach begann sie Gespräche mit anderen Parteien im Parlament. Wenn Erdoğan diesen Prozess weiterhin beobachtet und geschickt nutzt, könnte er am Ende sowohl das syrische Regime als auch seine eigene Machtposition stärken. Erdoğan könnte am Ende dieses Prozesses, den er derzeit stillschweigend beobachtet, sowohl das syrische Regime als auch seine eigene Machtposition festigen. Es wäre daher keine Überraschung, wenn der „ehemalige Terrorist“ Öcalan bald in Ankara an offiziellen Empfängen teilnimmt – und dabei sogar Frauen die Hand schüttelt.
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