Am 15. Oktober erklärte das deutsche Bundesverfassungsgericht den von der Ampel gefassten Beschluss, 60 Milliarden Euro nicht genutzter Mittel aus der Covid-19-Pandemie in einen Klimafonds umzuschichten, für verfassungswidrig.
Am 25. Oktober entschied das türkische Verfassungsgericht, dass Can Atalays Recht „gewählt zu werden“ verletzt worden war. Atalay, der im Gezi-Prozess zu einer 18-jährigen Haftstrafe verurteilt worden ist, kandidierte aus seiner Zelle für einen Sitz im Parlament und wurde gewählt. Nach der Entscheidung des Gerichts hätte der inhaftierte Abgeordnete sofort freigelassen werden müssen.
Bei meinem Versuch, beide Verfassungskrisen in den beiden Ländern parallel zu verfolgen, ist mir einmal mehr klar geworden, was es bedeutet, ein „Rechtsstaat“ zu sein. In Deutschland sorgte die Entscheidung des obersten Gerichts zwar für politischen Aufruhr, die Kritik richtete sich jedoch größtenteils gegen die Regierung, welche die Mittelübertragung beschlossen hatte, und nicht gegen das Verfassungsgericht, das darüber entschied. Die Oppositionsparteien bezeichneten das Urteil als „Schlag ins Gesicht“, die Regierung begann nach Möglichkeiten zu suchen, den neuen Haushalt im Einklang mit der Verfassung aufzustellen.
In der Türkei hingegen stand das Verfassungsgericht, welches das Urteil gefällt hatte, im Visier der Kritik. Im Nachgang an das Urteil lehnte der Oberste Gerichtshof nicht nur die Freilassung des Abgeordneten ab, sondern erklärte auch, das Verfassungsgericht habe seine Befugnisse überschritten, und reichte eine Strafanzeige gegen die hohen Richter ein, die das Urteil gefällt hatten.
Dies ist das erste Mal in der Türkei, dass es zu einem solchen Konflikt zwischen zwei hohen Gerichten kommt. Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wurde von der Opposition als „Rechtsbruch“ bezeichnet. Kritik kam sogar aus den Reihen der regierenden AKP. Der Vorsitzende der rechtsextremen MHP, des Juniorpartners der Regierungspartei, erklärte jedoch: „Das Verfassungsgericht sollte entweder aufgelöst oder umstrukturiert werden.“ Präsident Erdoğan stellte sich hinter den Obersten Gerichtshof und betonte, das Verfassungsgericht habe einen Fehler nach dem anderen gemacht. Mehmet Uçum, der oberste Rechtsberater des Palastes, bezeichnete die Entscheidung des Verfassungsgerichts als „Angriff auf die nationale Justiz“. Eine„nationale Justiz gab es zuletzt in Nazideutschland“, so Prof. Tayfun Atay von #ÖZGÜRÜZ.
Zwei Staaten… Zwei Oberste Gerichte... Zwei Entscheidungen... Zwei Befugnisse... Ein Grundsatz: Ohne Gerechtigkeit, auch kein Parlament, keine Menschenrechte und keine Demokratie.
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