Die „Bedrohung“ thematisierte Erdoğan am 1. Oktober. In einer Eröffnungsansprache vor dem Parlament erinnerte der Präsident daran, dass die Grenze der Türkei zu Syrien 170 Kilometer vom Libanon entfernt ist. Die Invasion läge somit in unmittelbarer Nähe. „Nach Palästina und dem Libanon werden es unsere Heimatländer sein, auf die die israelische Regierung ein Auge werfen wird. Die Netanjahu-Regierung, die Hitler zum Vorbild nimmt, strebt eine Utopie an, die Anatolien mit einschließt“, erklärte er. Angesichts der israelischen Aggression rief er zur Versöhnung, nicht zur Konfrontation, auf. Die größte Oppositionspartei CHP forderte daraufhin eine Unterrichtung des Parlaments über die Bedrohungslage.
Für jene, die mit den Machtstrategien von Autokraten auf der ganzen Welt und Erdoğans Regierungsstil in den letzten 20 Jahren vertraut sind, handelt es sich hierbei um ein vertrautes Szenario: „Künstliche Feinde schaffen, die Öffentlichkeit verängstigen, die Opposition einschüchtern, Kritik unter dem Deckmantel der ,Notwendigkeit der nationalen Einheit´ zum Schweigen bringen“. Zu einem Zeitpunkt, in dem die Wirtschaftskrise unerträglich ist, die Opposition die Kommunalwahlen gewinnt und in den Meinungsumfragen vorne liegt, setzt Erdoğan dieses Szenario in die Tat um. Polizeimaßnahmen und repressive Politik reichen nicht mehr aus, um die Zerstückelung der Basis und den Aufstieg der Opposition zu stoppen; er muss die Menschen, die mit Hunger und Armut konfrontiert sind, beruhigen. Dazu braucht es eine Atmosphäre der Einheit, an der sich auch die Opposition beteiligen muss. In naher Zukunft könnte man von ihm sogar erwarten, dass er unter dem Deckmantel der „demokratischen Öffnung“ Zugeständnisse macht. Aber kann er die Öffentlichkeit überzeugen? Erst letzte Woche sponserte BAYKAR, das Rüstungsunternehmen von Erdoğans Schwiegersohn, zusammen mit dem israelischen Staatsunternehmen IAI die Waffenmesse in Aserbaidschan. Ob jemand dieser Drohungsrhetorik Glauben schenkt, wird zum Teil auch von der Haltung der Opposition abhängen: Mal sehen, ob sie in die Falle der „nationalen Einheit“ tappt und Erdoğans Kampagne unterstützt, oder ob sie diese Androhung als Panikmache deklariert.
|