Mit der Energie, die der dynamische Vorsitzende der CHP ausstrahlt, kehrte sich die Stimmung um. Umfragen zeigen, dass die CHP inzwischen vor der AKP liegt. Auch die Kundgebungen, die die Partei an zwei Tagen in der Woche in verschiedenen Städten organisiert, verzeichnen wachsenden Zulauf.
Daraufhin setzte Erdoğan eine neue Strategie in Gang: die Übernahme der CHP-Führung. Vergangene Woche annullierte ein Gericht die Wahlen zur Istanbuler Parteiorganisation der größten Oppositionspartei und setzte eine Übergangsführung ein. Das markiert einen Wendepunkt im Versuch der Regierung, die Politik mithilfe der Justiz nach eigenen Vorstellungen umzugestalten. Am 15. September will das Gericht nun auch über die Annullierung der Wahlen in der CHP-Zentrale entscheiden. Sollte die lokale Führung der größten Partei des Landes per Gerichtsbeschluss abgesetzt werden, käme das einem „zivilen Putsch“ gleich.
Die CHP-Führung erklärte, das Gerichtsurteil nicht anzuerkennen. Die von der Justiz – genauer gesagt von Erdoğan – abgesetzte Parteiführung ist weiterhin im Amt; das neu eingesetzte Leitungsgremium bereitet sich derweil darauf vor, ab heute das Gebäude zu betreten und die Amtsgeschäfte zu übernehmen. Die CHP kündigte Widerstand an. Während ich diese Zeilen schreibe, beobachte ich zugleich, wie die Polizei das Istanbuler Parteigebäude einkreist. Das Land verwandelt sich Schritt für Schritt in ein Regime des Ausnahmezustands, in einen Polizeistaat.
Nach Ansicht von Politikwissenschaftlern herrschte in der Türkei bislang ein „Wahlautoritarismus“. Trotz aller Repression war es – wie zuletzt bei den Kommunalwahlen – möglich, Wahlen zu gewinnen. Und anders als etwa in Russland hatten die Wählerinnen und Wähler noch Hoffnung, die Macht durch Wahlen verändern zu können. Nun aber geht es in Richtung eines „hegemonialen Autoritarismus“, in dem Wahlen ihre Bedeutung verlieren und die Opposition unter Kontrolle gehalten wird. Diese Woche ist für die Demokratie in der Türkei von höchster Brisanz.
Dass die deutsche Politik und die Medien diese Entwicklungen weitgehend ignorieren, ist in der Tat bedauerlich.
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