Bedenkt man, dass Erdoğan als Staatspräsident bereits zweimal, in 2018 und 2023, Berlin besucht hat, so lässt sich diese Reise als ein längst überfälliger Gegenbesuch betrachten. Vor dem Hintergrund der Kontroverse zwischen Steinmeier und Erdoğan über Menschenrechtsfragen in 2018, liegt die Vermutung nahe, dass der Bundespräsident auf einen Besuch in Ankara nicht besonders insistierte und die Kommunalwahlen abgewartet hat.
Gleich bei der ersten Station seiner Reise startet der Präsident mit einem Zeichen für die Millionen in Deutschland lebenden türkischstämmigen Einwanderer. Steinmeier wird den Bahnhof Sirkeci besuchen, von dem aus die ersten Gastarbeiter verabschiedet wurden. Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, wird ihn empfangen. Dieses Treffen, bei dem es sich unter normalen Umständen um ein gewöhnliches Protokolltreffen handeln könnte, hat durch die jüngsten Wahlergebnisse an Bedeutung gewonnen. Schließlich gilt Imamoğlu als Erdoğans Rivale bei den nächsten Wahlen. Dem Palast dürfte ein gemeinsames Foto vor einem Zusammentreffen mit Erdoğan, nicht gefallen.
Nach einer Bootstour mit deutschen Unternehmensvertretenden wird der Bundespräsident am Abend mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen zusammentreffen. Man erwartet, dass er sich zu den Themen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit äußern wird. Während seines Besuchs 2018 brachte Steinmeier seine „Sorge um inhaftierte türkische Journalisten, Politiker und Intellektuelle“ zum Ausdruck, dass auf eine undiplomatische Reaktion von Erdoğan stieß. Die Lage hat sich seitdem nicht verändert, sondern eher verschärft.
Nach seinem Besuch im erdbebengeschädigten Gaziantep am 23. April wird Steinmeier am 24. April Erdoğan in Ankara treffen. Anschließend wird er in der Universität Ankara der deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern würdigen, die zur Gründung der Republik beigetragen haben. Es ist eine bittere Fügung, dass das Gedenken an jüdische Akademikerinnen und Akademikern, die vor den Nazis geflohen sind, mit dem Gedenken an das Massaker an dem armenischen Volk am 24. April zusammenfällt. Der wichtigste Teil der Reise ist jedoch, dass Erdoğan zum ersten Mal nach der ersten Wahlniederlage seiner Amtszeit einen westlichen Staatschef empfangen wird. Daher werden die Botschaften, die überbracht werden, Aufschluss über die Zukunft sowohl von Erdoğan als auch der türkisch-westlichen Beziehungen geben.
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