Liebe Leserin, lieber Leser,
in letzter Zeit beobachte ich in Berlin eine zunehmende Sympathie für die AfD unter Menschen mit türkischen Wurzeln. Warum unterstützen ausgerechnet Migranten eine Partei, die als „ausländerfeindlich“ gilt? Bevor man vorschnell von einem „Stockholm-Syndrom“ spricht, lohnt sich ein Blick auf die Hintergründe.
Beste Grüße
Ihr Can Dündar
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Hier meine Eindrücke:
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Zunächst fühlen sich viele türkischstämmige Menschen, die bereits vor mehreren Generationen nach Deutschland eingewandert sind, dem Land zugehörig und beklagen, dass „Neuankömmlinge“ ihre Lebensqualität beeinträchtigen. Ein Taxifahrer, mit dem ich sprach, klagte: „Wir haben die Sprache gelernt, die Regeln befolgt, uns integriert. Die Neuankömmlinge hingegen begehen Straftaten, verschmutzen die Stadt und belästigen unsere Kinder.“ Viele sind überzeugt, dass die Ablehnung vor allem durch die Probleme mit den Neuankömmlingen befeuert wird.
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Einige türkischstämmige Menschen befürchten, dass sie aufgrund der neuen Flüchtlingsbewegungen ebenfalls in den Fokus der Kritik geraten. Deshalb betonen sie: „Wir sind anders als die.“ Sie glauben, dass migrationskritische Parteien sich nicht gegen sie richten.
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Auch wirtschaftliche Konkurrenz spielt eine Rolle. Viele Türkinnen und Türken, die seit den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, sehen, dass die neu Zugewanderten um dieselben Jobs und Wohnungen kämpfen. Die AfD-Propaganda, die davor warnt, dass „die Neuankömmlinge euch eure Arbeitsplätze und Wohnungen wegnehmen“, findet bei ihnen Gehör.
- Ein weiterer Grund ist die Enttäuschung über die Parteien, die sie bisher gewählt haben – insbesondere bei SPD und Grüne. Viele Wählende, die sich von diesen Parteien nicht mehr vertreten fühlen, denken: „Warum nicht mal die Alternative ausprobieren?“
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Manche rechtsextremen Parteien haben ihre ausländerfeindliche Rhetorik gezielt entschärft, um mehr Wählerschaft zu gewinnen. In Österreich etwa setzte die FPÖ in ihrer Wahlkampagne bewusst auf türkischstämmige Unterstützende.
- Ein weiterer interessanter Punkt: Die islamfeindliche Rhetorik der extremen Rechten findet bei manchen säkularen Geflüchteten, die vor dem politischen Islam geflohen sind, Anklang.
Diese Dynamik, die den Eindruck vermittelt, dass „die zuerst Gekommenen gegen die später Gekommenen“ stehen, treibt die Isolation von neuen Geflüchteten weiter voran und stärkt die AfD. Die Strategie, migrantische Menschen gegeneinander auszuspielen und „gute Ausländer“ gegen „schlechte Ausländer“ aufzuhetzen, beschleunigt die Verbreitung rassistischer Denkweisen – auch unter Migrantinnen und Migranten selbst.
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Vergangenes Jahr haben wir ein TikTok-Projekt gestartet, um der jüngsten Generation der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Menschen – insbesondere den Jugendlichen – die Geschichte der Türkei näherzubringen. Das Projekt mit dem Namen „Türkei-100“ wurde in Zusammenarbeit mit Correctiv und dem ZDF-Funk-Kanal ins Leben gerufen. Anlässlich des 100. Jahrestags der Gründung der Türkischen Republik haben wir 100 historische Fotos ausgewählt und deren Geschichte in jeweils 100-sekündigen Videos erzählt. „Türkei-100“ hat mittlerweile die ersten 50 Videos veröffentlicht. In einer Analyse mit den Funk-Verantwortlichen vor zwei Wochen konnten wir erfreut feststellen, dass viele unserer Videos auf TikTok genau die junge Zielgruppe erreicht haben, die wir ansprechen wollten. Die zweite Staffel mit weiteren 50 Videos wird in wenigen Monaten starten. Besonders freut uns, dass das Projekt auch in anderen Ländern als Inspiration dient und ähnliche Vorhaben in Planung sind. Es reicht nicht aus, sich nur darüber zu beklagen, dass „junge Menschen keine Zeitungen mehr lesen, sondern sich nur auf TikTok informieren“ oder dass „die AfD über TikTok die meisten Stimmen sammelt“. In diesem Informationskrieg ist es von historischer Bedeutung, auf diesen Plattformen mit faktenbasierten Inhalten präsent zu sein und junge Menschen dort zu erreichen, wo sie sich informieren.
Wir geben unser Bestes, um dieser Verantwortung gerecht zu werden.
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