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Darauf angesprochen antwortete Erdoğan: „Dieses Land ist ein Land der Justiz. Wir halten uns an das, was die Justiz sagt.“
Seine Wortwahl blieb nicht unbemerkt. Er sprach nicht vom Rechtsstaat, sondern vom Land der Justiz. Recht bezeichnet ein Gefüge allgemeiner Prinzipien. Justiz ist in der heutigen Türkei eine Institution, die dem politischen Willen der Regierung folgt. Wenn Erdoğan also erklärt, man richte sich nach der Justiz, bedeutet das in Wahrheit, dass am Ende zählt, was er selbst vorgibt.
Mit der Verfassungsänderung von 2010 brachte Erdoğan die Justiz fest unter seine Kontrolle. Seither nutzt er sie, entgegen jedem rechtsstaatlichen Prinzip, als Instrument zur Ausschaltung politischer Gegner. Selahattin Demirtaş, 2014 Präsidentschaftskandidat, wurde 2016 gemeinsam mit neun Abgeordneten festgenommen.
Als Erdoğan 2019 die Kommunalwahl in Istanbul verlor, ließ er das Ergebnis durch ein Gericht aufheben. Die Wahlwiederholung verlor er erneut. Als ihm klar wurde, dass der Wahlsieger Ekrem İmamoğlu bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu seinem stärksten Rivalen werden könnte, entzog die zuständige Behörde zunächst dessen 35 Jahre alten Universitätsabschluss. Kurz darauf erklärte die Justiz İmamoğlu zum Anführer einer kriminellen Vereinigung und ließ ihn festnehmen. In der vergangenen Woche lag nun, acht Monate nach der Inhaftierung, die Anklageschrift vor. Sie fordert 2 420 Jahre Haft. Für die größte Oppositionspartei CHP - ein Putsch durch die Justiz.
Der frühere Generalmajor Charles J. Dunlap, der als Militärstaatsanwalt in der Luftwaffe der Vereinigten Staaten diente, prägte diesen Begriff bereits 2001. In seinem Aufsatz mit dem Titel „Law and Military Interventions: Preserving Humanitarian Values in 21st Conflicts“ verwandelte er den Begriff warfare in lawfare. In der Welt nach dem Kalten Krieg, so seine These, brauchte es keine Militärputsche mehr. Die Kontrolle über die Justiz reichte aus, um die Macht zu sichern. Dieses neue Instrument der Repression, zuerst in Lateinamerika erprobt, verbreitete sich rasch von Brasilien bis Indien, von der Türkei bis in die USA.
Heute nutzt Erdoğan die Justiz, um Gegner ins Gefängnis zu bringen, Parteitage der Opposition zu blockieren, die Medien vollständig zum Schweigen zu zwingen und große Vermögen zu konfiszieren. Sollte er trotz all dessen an der Wahlurne verlieren, stehen ihm Staatsanwälte und Richter bereit, die ein unerwünschtes Ergebnis nicht anerkennen würden.
Gegen eine Regierung, die Politik vor allem vor Gericht betreibt, bleibt der Opposition nur eine Möglichkeit: die Politik aus dem Gerichtssaal wieder auf die Straße zu tragen.
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