Die Tat wurde von einer Überwachungskamera festgehalten. Ein 54-jähriger türkischstämmiger Mann näherte sich einem 27-jährigen türkischstämmigen Mann von hinten, schoss ihm kaltblütig in den Kopf, feuerte zwei weitere Schüsse auf das Opfer ab und entfernte sich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Mann tot war. Der Verdächtige ist nach der Tat festgenommen worden, hat sich jedoch nicht zu dem Vorfall geäußert. Innenministerin Nancy Faeser bezeichnete den Vorfall als „unfassbar brutale Tat“.
Bei meinen Recherchen zu den Hintergründen des Mordes stellte sich heraus, dass es sich um eine „Blutfehde“ handelte. Nach den Informationen eines befreundeten Journalisten aus Şanlıurfa soll der ermordete junge Mann im Mai vergangenen Jahres in Antalya eine weitere Person auf Grund der gleichen Blutfehde getötet haben. Aus Angst, gerächt zu werden, wurde er anschließend von Menschenhändlern nach Deutschland geschmuggelt und versteckte sich bei seinen Verwandten. Die Schleuser teilten der verfeindeten Familie jedoch den Aufenthaltsort des Mannes mit. Daraufhin reiste der Neffe des Mannes, den der junge Mann getötet hatte, nach Frankfurt und verübte den Mord.
Die „Blutfehde“, die bis nach Deutschland reicht, ist in der Türkei eine jahrhundertealte, brutale Tradition. Bedauerlicherweise erschwerte die schleppende Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung das Aufbrechen der feudalen Strukturen in den ländlichen Gebieten. Trotz des Rückgangs der Dorfbevölkerung ist das „Bauerntum“ nicht verschwunden, im Gegenteil, es dominiert die Städte, in die es abgewandert ist.
Seit drei Wochen verfolgt die Türkei den Tod eines 8-jährigen Mädchens wie eine Reihe grausamer Mordfälle. Narin Güran verschwand am 21. August, ihr lebloser Körper fand man am 8. September. Seither ist das Rätsel um den Mord ungelöst. Aus den bisherigen Zeugenaussagen geht hervor, dass das kleine Mädchen von einem Familienmitglied getötet wurde, nachdem es im Haus etwas gesehen hatte, was es nicht hätte sehen dürfen. Die Bewohner des Dorfes, die fast alle untereinander verwandt sind, haben sich zu dem Mord nicht geäußert. Ein Abgeordneter der Regierungspartei erklärte: „Wir kennen die Familie, jedoch gibt es Dinge, die wir wissen, aber nicht sagen sollten“. Auch dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Medien den Mord in einem kleinen Dorf immer noch nicht aufklären konnten, schürte zusätzliche Zweifel.
Damit hat das eingangs erwähnte Problem der feudal-patriarchalisch-geschlossenen Gesellschaft es erneut auf die Tagesordnung geschafft. Neben Themen wie der Frauenfrage, die „sakrale“ Stellung der Familie, Inzest, eine schweigende Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Politik und großen Familienstämmen. Auch hier gilt der allgemeine Grundsatz: Geschlossene Räume schaffen Verfall. Das einzige Heilmittel ist Öffnung und Aufklärung.
|