Die erste: Merve Göntem, Drehbuchautorin der beliebten TV-Serie Kızılcık Şerbeti (wörtlich: Cranberry-Sorbet). In einem Interview erzählte sie von einer Figur, die sie für eine andere Serie geschaffen hatte: Eylül, ein junges Mädchen, das Sex gegen Geld anbietet. Sie sagte, Eylül habe dabei kein Unbehagen empfunden, im Gegenteil – sie habe Freude daran gehabt, habe in dieser Dunkelheit versucht, sich eine Art von Vergnügen zu schaffen. Und sie fügte hinzu: „In Istanbul gibt es so viele Mädchen, die das tun … Denn sie sind es leid, dass man sich in alles einmischt – von der Rocklänge bis zu ihrer Lebensweise. Wie viele junge Frauen in diesem Land will auch Eylül einfach nur entkommen.“
Göntem hatte diese Sätze vor vier Jahren in einem Interview gesagt. Doch die Hexenjäger holten sie aus dem Archiv und starteten auf den sozialen Medien eine Hetzkampagne. Die Staatsanwaltschaft schaltete sich sofort ein. Göntem, die vor fünf Monaten ein Kind zur Welt gebracht hatte, wurde wegen „Anstiftung zur Prostitution und zur Begehung von Straftaten“ festgenommen. Zum Glück kam sie – nach Protesten aus der Kunstbranche – unter Auflagen wieder frei. Doch die „Dunkelheit“, von der Göntem im Gespräch sprach, setzte ihr Werk fort. Die sechs Sängerinnen von Manifest, einer neuen „Mädchenband“ in der Türkei, gerieten nach ihrem ersten „18+“-Konzert ins Visier – wegen ihrer Bühnenkleidung und Tanzperformances. Die Staatsanwaltschaft leitete gegen sie ein Verfahren wegen „unanständiger Handlungen und Exhibitionismus“ ein. Die Mitglieder der Gruppe wurden festgenommen und anschließend unter Auflagen entlassen. Die Konzertaufnahmen indes wurden mit der Begründung, die „öffentliche Ordnung“ schützen zu wollen, gesperrt. Damit nicht genug: In der vergangenen Woche wandte sich auch das Ministerium für Familie und Soziales an das Gericht – mit dem Antrag, den Song Perperişan (deutsch: „Völlig zerstreut“) von Mabel Matiz zu blockieren. Begründung: Das Lied, das auf eine homosexuelle Liebesgeschichte anspielt, könne „die Institution Familie beschädigen“ und „die geistige Entwicklung der Jugend negativ beeinflussen“. Per Gerichtsbeschluss wurde der Song auf YouTube, Spotify und Apple Music gesperrt.
Die jugendliche Energie der Türkei passt nicht in das Korsette, welches man ihr überstreifen will – sie bricht hervor. Doch Staat, Staatsanwalt, Ministerium und der Rundfunk- und Fernsehrat mühen sich, diese Begeisterung, die die Dunkelheit durchbrechen will, kleinzuhalten. Aber was sie auch tun – diese Begeisterung wird zu Liedern, zu Gedichten, zu Drehbüchern, sie strömt auf die Straße hinaus … Kunst lässt sich nicht in Ketten legen.
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