Liebe Leserin, lieber Leser,
meine journalistische Laufbahn begann 1979 – in dem Jahr, als die PKK gerade erst gegründet wurde. In über 45 Jahren im Beruf hat die Kurdenfrage nicht nur meine gesamte Karriere, sondern auch die jüngere Geschichte der Türkei geprägt. Blutige Auseinandersetzungen, Hoffnung auf Frieden, Notstandsregime, militärische Lösungen, Waffenstillstände, geheime Verhandlungen, Bürgerkrieg, grenzüberschreitende Operationen – all diese Begriffe haben die Schlagzeilen des letzten halben Jahrhunderts dominiert. In der vergangenen Woche kamen zwei neue hinzu: „Niederlegung von Waffen“ und „Auflösung der PKK“.
Beste Grüße
Ihr Can Dündar
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Abdullah Öcalan, Gründer der PKK, forderte erstmals die Selbstauflösung seiner eigenen Organisation. Diese beiden bislang beispiellosen Forderungen könnten nicht nur die Zukunft der Türkei, sondern der gesamten Region verändern. Als Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, im Oktober plötzlich vorschlug, Öcalan solle ins Parlament kommen und die Niederlegung der Waffen erklären, waren alle schockiert. Seit 25 Jahren sitzt Öcalan in strenger Isolation, und selbst das bloße Erwähnen seines Namens konnte in der Türkei zu Festnahmen führen. Doch inzwischen wird klar, was hinter dieser plötzlichen politischen Kehrtwende steckt. Bahçelis Aufruf im Oktober war kein spontaner Einfall, sondern Teil eines lange im Voraus geplanten strategischen Schrittes. Dass Öcalan nun im Februar darauf reagiert, ist der nächste große Schritt in diesem Prozess. Was als Nächstes kommt, scheint auf beiden Seiten bereits festzustehen – und wird mit großer Sorgfalt umgesetzt werden.
Warum gerade jetzt? Was hat sich verändert, dass ein Krieg, der in den letzten fünfzig Jahren rund 40.000 Menschenleben gekostet hat, plötzlich eine Hoffnung auf Frieden weckt? Zwei entscheidende Entwicklungen haben die Dynamik verschoben: Trumps Aufstieg zur Macht und ein möglicher Regimewechsel in Damaskus. Die USA wollen sich aus der Region zurückziehen, aber nicht, ohne ein stabiles Umfeld zu hinterlassen. Dafür müssen ihre kurdischen Verbündeten sowohl in der Türkei als auch in Syrien abgesichert werden. Eine mögliche Lösung: Die Türkei zieht sich aus Syrien zurück, wo sie unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung militärisch aktiv ist, und ein neues Regime in Damaskus integriert Rojava in die Verwaltung. So ließe sich die Stabilität in der Region leichter gewährleisten.
Mit diesem Schritt hat Öcalan seine Organisation aus der militärischen Sackgasse auf ein viel breiteres politisches Spielfeld geführt. Gleichzeitig untergräbt er die Legitimation von Ankaras militärischer Präsenz in Syrien und verschafft der PKK, die international als Terrororganisation eingestuft wird, neue politische Bewegungsfreiheit. Und das alles möglicherweise mit einer zukünftigen Amnestie für sich selbst und seine Organisation im Hinterkopf. Die türkische Regierung bestreitet, dass es eine Verhandlung gibt. Aber falls in naher Zukunft eine neue Verfassung auf den Tisch kommt, die nicht nur den Kurden mehr Rechte einräumt, sondern auch Erdoğan die Möglichkeit einer weiteren Wiederwahl sichert, sollte das niemanden überraschen.
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Die künstliche Welt revolutioniert die Welt. Vergangene Woche haben wir bei Correctiv eine der Wunder der KI angewandt. Meine auf Türkisch verfasste Analyse zu Öcalans Aufruf haben wir mithilfe von KI-Technologie auf Deutsch veröffentlicht. Das neue Programm übersetzt nicht nur Gesprochenes in eine andere Sprache, sondern verwendet dabei die eigenen Stimme des Sprechers. Plötzlich ist es möglich mich auf Russisch, Chinesisch, Französisch oder Deutsch sprechen zu hören. Die Übersetzung war nahezu perfekt. Mein „Deutsch“ klang zuerst nach bayerischem, dann nach österreichischem Akzent. Später hat es sich – wenn auch in etwas höherer Geschwindigkeit – eingependelt. In kürzester Zeit werden wir in der Lage sein, Kommentare aus aller Welt in unserer Muttersprache zu hören. Eine Entwicklung, die das gesamte System von Übersetzungsbüros bis hin zu Sprachkursen auf den Kopf stellen wird. Dank dieser Technologie hoffe ich, nun auch das deutsche Publikum häufiger erreichen zu können.
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