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Julian Barnes beschreibt in seinem Roman The Noise of Time (Der Lärm der Zeit) die Seelenlage des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch während Stalins Großer Säuberung in den späten 1930er Jahren. Schostakowitsch war wegen seiner regimekritischen Haltung zur Zielscheibe der Parteipresse geworden und erwartete jeden Morgen, von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Er legte sich nicht mehr hin, ohne den Anzug auszuziehen, und wartete mit gepacktem Koffer im Treppenhaus, damit seine Familie seine Verhaftung nicht mitansehen musste. Und eines Morgens kamen sie.
Auch in der Türkei kamen sie, eines Morgens in der vergangenen Woche. Sechs Journalistinnen und Journalisten wurden aus dem Schlaf gerissen, allesamt bekannte Namen, seit Jahrzehnten Teil der türkischen Öffentlichkeit. Alle waren sie zuvor von der regierungsnahen Presse an den Pranger gestellt worden, alle lebten seitdem in ständiger Unruhe. Nun wurden sie von der Polizei abgeführt. Auf der Wache erfuhren sie, was man ihnen vorwarf: Sie sollen regelmäßig Geld von einem Berater des Istanbuler Bürgermeisters und Erdoğan-Rivalen Ekrem İmamoğlu erhalten haben. Beweise gab es keine, nur die Aussage eines anonymen Zeugen. Die Beweislast lag bei ihnen: Sie sollten ihre Unschuld belegen.
Eine der Fragen, die Ruşen Çakır gestellt wurde, bringt das Wesen dieser Ermittlungen und des Regimes auf den Punkt: Warum hast du die Überschrift „İmamoğlu-Wunder“ gewählt?
Diese Frage ist Beweis genug, dass Journalismus in der Türkei längst zum Verbrechen geworden ist. Einen Beleg für ihre angebliche Schuld fand die Staatsanwaltschaft nicht, also ließ sie die Kolleginnen und Kollegen diesmal frei, nachdem sie ihre Telefone beschlagnahmt und ihnen ein Ausreiseverbot auferlegt hatte.
Doch die Botschaft war unmissverständlich: Von nun an soll jeder genau abwägen, was er schreibt, welche Worte er wählt. So verlangt es der Lärm der Zeit.
Allen Kolleginnen und Kollegen, die trotz Einschüchterung, Bedrohung und Angst weiterschreiben und weitersprechen, gebührt Respekt und Bewunderung.
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