Anders als bei den letzten Wahlen spielte die Türkei in diesem Wahlkampf keine zentrale Rolle. Von den knapp 60 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland wird geschätzt, dass rund eine Million türkische Wurzeln hat. Sie bilden damit die drittgrößte Gruppe unter den Wählerinnen und Wählern mit Migrationshintergrund. Bisher stimmte diese Wählergruppe mehrheitlich für die Sozialdemokraten (SPD) – ihr Stimmenanteil lag traditionell bei 35 bis 40 Prozent. Doch in dieser Wahl dürfte sich das Wählerspektrum weiter ausdifferenzieren, was nicht überraschend wäre. Dahinter stehen eine Vielzahl sozialer, wirtschaftlicher und politischer Faktoren.
Ich habe mir angesehen, was die zur Wahl stehenden Parteien in ihren Programmen über die Türkei sagen. Im 68-seitigen Wahlprogramm der SPD wird die Türkei überhaupt nicht erwähnt – obwohl Länder wie Brasilien, Indonesien und Südafrika darin vorkommen. Die CDU spricht von einer „Vertiefung des Dialogs“, betrachtet die Türkei jedoch nicht als potenzielles EU-Mitglied, sondern lediglich als „strategischen Partner“. Die AfD bewegt sich auf einer ähnlichen Linie: Sie sieht die Türkei als „strategisch-wirtschaftlichen Partner“, allerdings vor allem im Kontext der Migrationsabwehr, also als eine Art Puffer gegen Flüchtlingsbewegungen. Die Linke thematisiert die Türkei vor allem im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Militäroperationen und der Repression gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Die Grünen sind die einzige Partei, die nicht nur die türkische Regierung, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes im Blick hat. Sie unterstützen die EU-Mitgliedschaft der Türkei, allerdings unter der Voraussetzung von demokratischen Reformen. Darüber hinaus sehen sie die Türkei nicht nur durch die Linse Erdoğans, sondern versprechen Unterstützung für die Zivilgesellschaft, die sich gegen seine autoritäre Herrschaft wehrt.
Seit 60 Jahren leben Millionen von Menschen aus der Türkei in Deutschland. Trotzdem sieht die deutsche Politik die Türkei immer noch vor allem als „strategischen Partner“ und blendet den existenziellen Kampf um Demokratie im Land weitgehend aus. Das ist ein großes Problem. Natürlich liegt das auch an politischen, wirtschaftlichen und militärischen Interessen, die dazu führen, dass sich Deutschland mit Erdoğan arrangiert. Ein Teil der Verantwortung liegt auch bei uns – jenen, die den Widerstand gegen Unterdrückung und die Bedeutung dieses Kampfes nicht klar genug vermitteln.
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