Den ersten Zug machte der Präsidentenpalast: Erdoğan ließ das Diplom seines wichtigsten Rivalen, des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, annullieren – offenbar, um dessen Präsidentschaftskandidatur zu verhindern. Am nächsten Tag folgte ein Haftbefehl gegen İmamoğlu. Das Ziel: Die Kontrolle über die Stadtverwaltung von Istanbul an sich reißen. Doch die Opposition schlug zurück. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel erkannte, dass nach dem Verlust Istanbuls als Nächstes das Verbot der Partei drohen könnte, und handelte schnell. Er machte das Rathaus von Istanbul zur Festung, rief die Bevölkerung auf die Straßen und mobilisierte Millionen, darunter zahlreiche junge Menschen aus den Universitäten. Gemeinsam gelang es ihnen, Erdoğans Plan zunächst zu verhindern.
Doch dieser Erfolg ist vorerst nur ein Aufschub. Die erste Runde dieses taktischen Schlagabtauschs endete mit einem Unentschieden, und nach einer zehntägigen Pause beginnt nun die zweite Runde. Beide Seiten haben die Zeit genutzt, um neue Strategien zu entwickeln. İmamoğlu wurde in einer Vorwahl mit 14 Millionen Stimmen als Präsidentschaftskandidat gewählt, während die CHP Özgür Özel durch einen außerordentlichen Parteitag ihre volle Unterstützung zusicherte.
Die Opposition verfolgt nun einen ambitionierten Plan: Mit einer Unterschriftenkampagne und aufeinanderfolgenden Großkundgebungen will sie Erdoğans Stimmenzahl bei der letzten Wahl (27,7 Millionen) übertreffen, um Neuwahlen zu erzwingen. Parallel dazu richtet sich ein gezielter Boykott gegen regierungsfreundliche Unternehmen, um den finanziellen Rückhalt des Palastes zu schwächen. Bislang wurden bereits über sieben Millionen Unterschriften gesammelt – ein Erfolg, der auch an der nervösen Reaktion der regierungsfreundlichen Medien erkennbar ist. Die Boykottaufrufe scheinen ebenfalls Wirkung zu zeigen. Özgür Özel erklärte: „Wir kaufen keine Autos von Audi, Volkswagen oder Skoda.“ Der Grund: Diese Marken werden in der Türkei von Doğuş Holding vertrieben, deren Nachrichtensender NTV als Unterstützer der Regierung gilt. Özel erklärte: „Diese Autos kauft unsere Basis, und euer Kanal zeigt die Millionen auf der Straße nicht. Entweder werdet ihr diesen Platz sehen, oder ihr werdet in der Versenkung verschwinden.“ Aber wirkt der Boykott wirklich?
In Ländern wie Kroatien, Serbien, Georgien und Nordmazedonien wird diese Form des zivilen Widerstands weiterhin erprobt. In der Türkei fällt der Boykott jedoch mit den Feiertagen zusammen, was seine tatsächliche Wirkung bislang schwer messbar macht. Vergangene Woche antwortete Volkswagen auf eine Frage von Deniz Yücel in Die Welt: „Wir hoffen, dass die legitimen Interessen des türkischen Volkes berücksichtigt werden.“ Der Konzern betonte dabei auch „Unabhängigkeit der Justiz“ und „Rechtsstaatlichkeit“. Diese diplomatischen Worte deuten darauf hin, dass auch ausländische Investoren zunehmend mit Sorge auf die aktuellen Entwicklungen blicken. Sollte sich der Boykott auf den Tourismus ausweiten, könnte dies die ohnehin angeschlagene Wirtschaft weiter destabilisieren. Die Türkei steht vor einer Phase voller Spannungen, Unsicherheit und tiefer Risse.
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