Es ist, als ob die Geschichte der Migrantinnen und Migranten und die Geschichte Deutschlands getrennt voneinander geschrieben wurden. Ein einfaches Beispiel: Seit mehr als 60 Jahren leben türkische Einwanderinnen und Einwanderer in Deutschland. Sie haben viele erfolgreiche Unternehmer, Politikerinnen, Künstler, Schriftstellerinnen, Medien- und Kulturschaffende hervorgebracht. Auch viele namhafte Kunstschaffende, welche die Türkei verlassen mussten, haben einen großen Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht. Mit meinem Umzug nach Berlin, habe ich mich umgesehen, auf keiner einzigen der Gedenktafeln an den Gebäuden findet sich eine Spur von ihnen. Sabahattin Ali, einer der besten türkischen Schriftsteller, lebte jahrelang in Potsdam. Cem Karaca, ein politischer Migrant, und Neşet Ertaş, die Legende der türkischen Volksmusik, haben ihre Spuren in Deutschland hinterlassen.
Bei der Überlegung, ob man etwas dagegen tun könnte, kam mir die Idee einer Gedenktafel für Neşet Ertaş, der einen Saz-Laden im alten türkischen Basar führte. Ertaş gehört zu den wenigen verbliebenen gemeinsamen Nennern in einer völlig polarisierten Türkei. Eine solche Geste würde nicht nur ein Band zwischen türkischen Zuwanderern und Deutschen schaffen, sondern auch zwischen den türkischen Zuwanderern selbst. Der Berliner Kultursenat, an den ich mich mit Unterstützung von Minister Cem Özdemir und seinem Berater Taylan Engin gewandt hatte, gab dem Antrag nach einem Jahr Bedenkzeit statt. Die Kulturwissenschaftlerin Verda Kaya verfasste den Text für die Gedenktafel. Das „Museum für Faschismus und Widerstand in Berlin“ übernahm die Organisation. Am 19. September schließlich wurde die Neşet Ertaş-Tafel am Eingang des U-Bahnhofs Bülowstraße enthüllt, wo sich früher der alte türkische Bazar befand - „der wichtigste Berliner Erinnerungsort für Migranten“. Dies war die erste Gedenktafel, die in einem Berliner U-Bahnhof angebracht wurde.
Oliver Friederici, der für den sozialen Zusammenhalt zuständige Staatssekretär des Berliner Senats, wies in seiner Rede auf das Versäumnis hin, das Leben von Migrantinnen und Migranten in Berlin sichtbar zu machen. In meiner Rede, brachte ich meine Hoffnung zum Ausdruck, dass diese Gedenktafel ein erster Schritt sein würde, und ließ die Stimme von Neşet Ertaş für die Gäste erklingen. Ich stellte mir vor, dass sein Schrei, der von Berlin aus in den Himmel steigt, in seiner Heimat zu hören sein würde. Die türkische Botschaft war bei der Zeremonie nicht anwesend, ebenso wenig wie die türkischen Medien. Aber was soll's... Neşet Ertaş war ohnehin ein Künstler, der den Titel „Staatskünstler“, den ihm der türkische Staatspräsident verliehen hatte, mit den Worten „Ich bin der Künstler des Volkes“ abgelehnt hatte. Und auch jetzt feierte man die Anbringung dieser symbolischen Gedenktafel mit jenen, die ihn wirklich schätzten.
|