Ende der 70er-Jahre war das Land von politischen Morden, Sabotagen und Provokationen zerrissen. Später wurde deutlich: Hinter dem Blutbad stand eine Gladio-ähnliche Struktur des Tiefen Staates. Die Generäle des herbeigeführten Putsches traten an, „die Türkei vom Bruderkrieg zu befreien“, stürzten die Regierung, sperrten Tausende aus rechter wie linker Szene ein, brachten Dutzende an den Galgen. Nur die Islamisten blieben außen vor. Im Gegenteil: Mit Koranschulen und obligatorischem Religionsunterricht wurden sie sogar gefördert. Die USA, die nach der iranischen Revolution 1979 und dem Einmarsch in Afghanistan an Einfluss eingebüßt hatten, stützten in der Türkei ein ihnen genehmes, stabiles Militärregime. Während die lebendigen Parteien und Jugendorganisationen ausgeschaltet wurden, ließ man islamistische Netzwerke wachsen. Erdoğan ist eine Frucht dieser Saat. Sein Aufstieg verdankt sich dem Vakuum, das die ausgeschalteten Politiker hinterließen – und dem von Washington abgesegneten Projekt eines „gemäßigten Islam“. Er nutzte die Gelegenheit und etablierte sich mit offener US-Unterstützung an der Macht. Dass eine der ersten Initiativen der AKP nach dem Wahlsieg im November 2002 der Versuch war, den US-Truppen für den Irakkrieg den Weg durch die Türkei zu öffnen, sollte nicht vergessen werden. Bis heute zählt die AKP zu den engsten Partnern der Trump-Administration.
Drei Jahrzehnte nach dem Putsch setzte Erdoğan ein Referendum an – angeblich, um die Putschisten zur Rechenschaft zu ziehen. Doch unter diesem Deckmantel schmuggelte er eine Reform hinein, die ihm die Kontrolle über die Justiz verschaffte. Mit der Kampagne „Wir bestrafen die Putschisten“ wurde in Wahrheit der Rechtsstaat ausgehebelt und der Boden für das heutige Ein-Mann-Regime bereitet.
Auch 45 Jahre später ist der 12. September kein „historischer Putsch“, der in den Büchern verstaubt. Er ist ein Prozess, dessen Folgen in allen Bereichen bis heute spürbar sind.
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