Liebe Leserin, lieber Leser,
nach 21 Jahren an der Macht hat Erdoğan auch die letzte Wahl gewonnen und sowohl das Präsidentenamt als auch die Parlamentsmehrheit errungen. Es herrschen zwei unterschiedliche Prognosen über seinen politischen Kurs: Manche prognostizierten, dass er nun ohne Hindernisse seine bisherige Unterdrückungspolitik verstärken wird, da er mit der letzten Zustimmung des Volkes keinerlei Beschränkungen mehr habe. Andere erwarteten hingegen eine Lockerung. Es scheint, dass - zumindest vorerst - die zweite Prognose eingetroffen ist. Erdoğan hat ein relativ gemäßigtes Kabinett aus Technokraten gebildet.
Beste Grüße
Ihr Can Dündar
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Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen ist er auf eine rationale Wirtschaftspolitik und Signale der Entspannung angewiesen, um Unterstützung für die marode Wirtschaft zu erhalten. Zum anderen muss er die Gemüter der 25 Millionen Menschen besänftigen, die gegen ihn gestimmt haben. Und: Man wird von der Bevölkerung erwarten, dass sie ihre Gürtel noch enger schnallt, um die während des Wahlprozesses völlig zusammengebrochene Wirtschaft wieder aufzubauen. Hinzu kommen mögliche Proteste der arbeitenden Bevölkerung, welche bereits unterhalb der Armutsgrenze lebt, die im Kern erstickt werden müssen.
Im März 2024 stehen Kommunalwahlen an. Erdoğans Ziel ist es nun, die beiden großen Städte, insbesondere Istanbul, die er an die Opposition verloren hat, zurückzugewinnen. Der Abstand der Stimmen in Ankara und Istanbul haben sich erheblich verringert. Die Signale der Entspannung zielen darauf ab, beide Großstädte für sich zu gewinnen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass er in den nächsten neun Monaten mit Investitionen und starken Kandidaten diese beiden Städte gewinnt. Eine Verschärfung seines Kurses wird möglicherweise erst nach dieser Wahl eintreten.
Kommen wir zur Opposition. Die Nationale Allianz, die Verlierer der Wahl, befindet sich in einem Zustand des völligen Chaos. Die Republikanische Volkspartei (CHP) ist damit beschäftigt, nach einem Schuldigen für die Niederlage zu suchen: Einige geben dem Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu die Schuld, andere seinem Team oder dem Wahlkampfpersonal. Die rechten Partner in der Allianz diskutieren darüber, wie sie als Minderheit im Parlament kämpfen können, und sich scheinbar mehr auf den sich verschlechternden Gesundheitszustand von Erdoğan zu verlassen als auf einander.
Die wohl gravierendste negative Auswirkung der Wahl ist der weit verbreitete Glaube, dass „in Autokratien Wahlen die Regierung nicht ändern können“. Sollte sich dieser Glauben dauerhaft verfestigen, könnte dies die türkische Demokratie weiterhin erheblich schädigen.
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Die Wahlergebnisse haben auch in Deutschland eine intensive Debatte ausgelöst. Der Wahlerfolg Erdoğans in Deutschland mit einem im Vergleich zur Wahlbeteiligung in der Türkei besseren Ergebnis und die anschließenden lautstarken Kundgebungen standen im Fokus deutscher Politik. Cem Özdemir wertete die Siegeskonvois als „ eine nicht zu überhörende Absage an unsere pluralistische Demokratie“ und verwies auf das Versagen der deutschen Politik.
Das Problem hat viele Dimensionen, von der Integrationspolitik bis zur Wahlbeteiligung. Wichtig ist, dass die deutsche Regierung die Ursachen gründlich untersucht und gemeinsam mit den hier lebenden türkischstämmigen Menschen Lösungen findet, anstatt das Problem nur von Wahl zu Wahl zu betrachten. Ein wichtiger Aspekt ist nach meiner Meinung auch der Einfluss der türkischen Fernsehsender auf die in Deutschland lebenden türkischen Migranten. Um die Wirkung dieser ständigen Propagandamaschine zu brechen, müssen überzeugt Demokratinnen und Demokraten an alternative Nachrichten- und Unterhaltungskanäle in beiden Sprachen arbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft mithilfe der Dynamik neuer Migranten in Kombination mit der Erfahrung derjenigen, die schon länger hier leben, gemeinsam an Lösungsansätzen arbeiten können.
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