Erdoğan, der es gewohnt ist, aus jeder Wahl als Sieger hervorzugehen, hat zum ersten Mal seit acht Jahren seine Abwehrhaltung aufgegeben und sich mit der Opposition getroffen. Am 2. Mai trafen sich die beiden Vorsitzenden in der AKP-Zentrale. Dass das Treffen in der Parteizentrale und nicht im prächtigen Präsidentenpalast stattfand, zeigte, dass die Sozialdemokraten Erdoğan in seiner Funktion als „Parteichef“ trafen. Für diese Bedingung, die er hinnehmen musste, rächte sich Erdoğan eigens mit dem Signal: Anstatt dem CHP-Vorsitzenden Özgür Özel direkt gegenüber zu sitzen, ließ er ihn auf einem anderen Platz zu seiner Rechten Platz nehmen. Auch zu seiner Linken wurde ein leerer Sitz platziert. Damit versuchte er zu suggerieren: „Wir sind nicht auf Augenhöhe, ich bin der Präsident und dies ist kein 'Treffen', sondern eine 'Akzeptanz‘“.
Doch eine Tatsache lässt sich durch diesen psychologischen Krieg mit Chiffren nicht verbergen: Das Bajonett von Erdoğan ist gefallen. Die jüngste Umfrage eines türkischen Forschungsunternehmens zeigte, dass der Wahlerfolg der CHP kein lokaler und vorübergehender Sieg war. Der Umfrage zufolge könnte die CHP, wenn heute gewählt würde, wieder als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen. In derselben Umfrage war der Anteil derjenigen, die auf die Frage „Welche Partei kann die Probleme der Türkei lösen?“ mit „CHP“ antworteten, höher als der Anteil derjenigen, die mit „AKP“ antworteten.
Der neue CHP-Vorsitzende Özgür Özel bemüht sich, diesen Aufwärtstrend fortzusetzen, ohne sich Fehler zu erlauben. Am 1. Mai verzichtete er auf sein Vorhaben, mit den Arbeitnehmenden auf dem Taksim-Platz zu demonstrieren, welcher auf Anordnung von Erdoğan gesperrt wurde. Vermutlich hat er damit gerechnet, dass die dadurch entstehenden Konflikte der Regierung zugute kommen und das Treffen mit Erdoğan am 2. Mai erschweren würden.
Beide Seiten haben den Termin offenbar zufrieden verlassen. Erdoğan kündigte sogar an, er werde der CHP einen Besuch abstatten. Viele halten Erdoğans Entspannungspolitik für eine Falle, um seine Macht zu erhalten und befürchtet, dass die CHP in diese Falle tappen könnte. Die CHP konzentriert sich vielmehr darauf, die Liste an Forderungen, die sie Erdoğan vorgelegt hat, umzusetzen.
Die kommenden Monate werden wohl von einem Kampf um die psychologische Überlegenheit zwischen Regierung und Opposition geprägt sein.
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