Liebe Leserin, lieber Leser,
die Türkei ist ein Land voller Überraschungen... Freunde und Feinde, Hoffnung und Pessimismus, Verbündete und Kontrahenten können rasch die Plätze tauschen. Nun ist es erneut passiert: Am 1. Oktober änderte sich das politische Klima schlagartig, als Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, zu den Abgeordneten der DEM, der „kurdischen Partei“, deren Schließung er zuvor gefordert hatte, ging und ihnen die Hand reichte.
Beste Grüße
Ihr Can Dündar
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Anschließend erklärte Bahçeli bezüglich des : „Soll er [PKK-Führers Abdullah Öcalan] doch kommen und im Parlament sprechen und das Ende des Terrorismus und die Auflösung der Organisation verkünden“. Das löste ein politisches Erdbeben aus. Selbst jene, die forderten, dass Öcalan, der seit 25 Jahren unter strengen Isolationsbedingungen inhaftiert ist, die Möglichkeit bekommen sollte, sich mit seinen Anwälten zu treffen, wurden von Bahçeli und seinen Grauen Wölfen als „Terroristen“ abgestempelt. Deshalb überraschte Bahçelis Schritt sogar seine eigene Basis. Allerdings zeigte sich schon bald, dass es sich dabei um einen „staatlichen Plan“ handelte. Offensichtlich hatte man auf höchster Ebene einen Strategiewechsel bei der Lösung des Kurdenproblems beschlossen. Hierfür fanden im İmralı-Gefängnis Verhandlungen zwischen Öcalan und den Geheimdiensten statt, es kam zu Telefonaten Öcalans mit PKK-Guerillaführern im Qandil-Gebirge im Nordirak, und als sich eine Lösung abzeichnete, ließ sich der Vorsitzende der MHP, der als schärfster Gegner in dieser Frage galt, zu diesem unerwarteten Schritt überreden.
Seit Wochen wird in der Türkei über die Hintergründe dieses plötzlichen Politikwechsels debattiert. Die einen vermuten, dass es Erdoğan - der für seine vierte Wahl zum Präsidenten eine Verfassungsänderung und dafür die Stimmen der Kurden benötigt - darum geht, im Präsidentenpalast zu bleiben. Andere wiederum glauben, die Türkei bereite sich auf einen möglichen Rückzug der USA aus Syrien und den Sturz des Regimes im Iran durch Israel vor und wolle Öcalans Einfluss auf die Kurden in der Region ausnutzen.
Die oppositionelle CHP erklärte ihre Unterstützung für diesen Prozess. Sowohl in der Regierung als auch in der kurdischen Politik herrscht vorsichtiger Optimismus. „Vorsichtig“, weil der letzte Lösungsprozess vor 10 Jahren damit endete, dass Erdoğan den Verhandlungsstisch verließ und eine noch größere Welle der Gewalt auslöste. „Optimistisch“, da sich alle Seiten ein Ende des 40-jährigen Krieges wünschen, der Zehntausende von Menschenleben gefordert hat. Doch der PKK-Angriff auf eine Verteidigungsanlage in Ankara in der vergangenen Woche, bei dem fünf Menschen getötet wurden, und die anschließenden türkischen Bombenangriffe auf kurdische Gebiete in Syrien und im Irak haben gezeigt, dass der Prozess nicht einfach sein wird. Die Erfahrung weltweit zeigt aber auch, dass der Weg zu einer politischen Lösung mit bewaffneten Organisationen äußerst dornig, aber nicht unmöglich ist.
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In der Türkei, wie auch in anderen autokratischen Ländern, in denen die Medien fast vollständig durch die Regierung kontrolliert werden, stellen soziale Medien eine alternative Kommunikationsplattform dar. In der Türkei füllte X eine solche Lücke. Erdoğan erkannte das und traf sich im vergangenen Jahr mit Elon Musk. Er appellierte an Musk, eine Tesla-Fabrik in der Türkei zu errichten. Möglicherweise kamen bei diesem Treffen auch die „bedenklichen“ Inhalte der Plattform zur Sprache. In der vergangenen Woche wurde plötzlich mein X-Konto mit 5,5 Millionen Followern in der Türkei gesperrt. Der Innenminister verkündete, dass für 177 Konten, darunter auch meines, diese Entscheidung getroffen wurde.
Das Sperrverfahren läuft folgendermaßen ab: Erdoğan oder ein Minister fühlen sich durch einen Tweet beleidigt? Dann beantragt die von der Regierung kontrollierte Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien innerhalb von 24 Stunden bei einem Gericht, den Zugang zu diesem Inhalt zu sperren; das von der Regierung kontrollierte Gericht genehmigt diese Entscheidung innerhalb von 48 Stunden. Die X-Verwaltung setzt die Sperrung innerhalb von 4 Stunden nach Zustellung der Entscheidung um. Davon erfahren die Betroffenen noch nicht einmal etwas. Die Entscheidung des Gerichts konnte ich nach Abschluss des Verfahrens lesen: „Der Inhalt enthält Beiträge, die gegen die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung verstoßen“. Unklar bleibt, in welchen Beiträge diese Inhalte auftauchen. Eine solch vage Entscheidung einer durch die Regierung kontrollierten Justiz kann also dazu führen, dass eine globale Organisation wie X dies dennoch in die Praxis umsetzt, und das Recht von Millionen von Menschen, Nachrichten zu empfangen, im Handumdrehen einschränkt.
Allein im letzten Jahr wurden in der Türkei mehr als eine Million Websiten aufgrund willkürlicher Gerichtsentscheidungen gesperrt. Das Tragische daran ist, dass Elon Musk, der diese Zensur ermöglicht hat, Geld für die freie Meinungsäußerung in Trumps Präsidentschaftswahlkampf spendet. Während wir rechtlich gegen die Entscheidung kämpfen, lade ich die internationale Presse und Think Tanks ein, sich zu informieren und gemeinsam zu reagieren. Der Verlust dieser Basis wird unsere bereits eingeschränkte Kommunikationsfreiheit weiter einschränken.
Ich wünsche Ihnen allen eine gute Woche.
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