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Nachdem die Regierung erkannt hatte, dass sie İmamoğlu mit dem Vorwurf eines gefälschten Diploms, mit Korruptionsbeschuldigungen oder durch Denunzianten nicht verurteilen kann, zog sie nun ihren letzten Trumpf: den absurdesten aller Vorwürfe.
Sie beschuldigte İmamoğlu und seinen Berater Necati Özkan der Spionage. Manche mochten beim ersten Hören lachen, andere erschraken. Doch aus Sicht der Regierung hat dieser Vorwurf einen handfesten Zweck. Er allein könnte schon genügen, um einen Treuhänder über die Istanbuler Stadtverwaltung zu setzen. Mit anderen Worten: Erdoğan, der die Kontrolle über die größte Stadt des Landes an der Wahlurne verloren hat, könnte sie sich durch ein juristisches Manöver zurückholen. Gleichzeitig kann er damit die eigene Anhängerschaft einschüchtern, die den früheren Korruptionsvorwürfen gegen İmamoğlu keinen Glauben schenkte.
Und vor allem kann er die Medien, die an der Verbreitung dieser Anschuldigungen beteiligt sind, zum Schweigen bringen. Genau das geschah auch: Der Chefredakteur des oppositionellen Senders Tele1, Merdan Yanardağ, wurde unter demselben Spionagevorwurf festgenommen. Dem Sender wurde ein staatlicher Treuhänder vorgesetzt, ein Medienmanager aus Erdoğans Umfeld. Das Archiv wurde gelöscht, die redaktionelle Linie über Nacht geändert. Eine der wichtigsten Bastionen der Opposition in den Medien ist gefallen.
Doch Özgür Özels Gegenangriff ließ nicht auf sich warten. Als bekannt wurde, dass İmamoğlu am Sonntag überraschend zur Vernehmung ins Istanbuler Justizgebäude in Çağlayan gebracht werden sollte, brach Özel seinen Besuch in der Schweiz ab und rief die Menschen in Istanbul dazu auf, sich auf dem Platz von Çağlayan zu versammeln und İmamoğlu beizustehen. Zwar verhängte das Gouverneursamt umgehend ein Demonstrationsverbot, um das sich niemand kümmerte, dennoch strömten am Sonntag Tausende auf den Platz und riefen ihre Unterstützung für İmamoğlu hinaus.
In seiner Rede forderte Özel die Menschen auf, „den Pyjama auszuziehen, auf den Platz zu kommen und Geschichte zu schreiben“.
Zwischen Autokratie und Demokratie tobt ein erbittertes Tauziehen: Die Regierung verteidigt den Präsidentenpalast mit allen Institutionen – auch mit der Justiz. Doch ihr gegenüber steht eine breite Volksbewegung, die sich mit aller Kraft für die Demokratie stemmt. Das Ergebnis dieses Kampfes wird nicht nur über die Zukunft der Türkei entscheiden, sondern über die der ganzen Region.
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