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Sie müssen verhindern, dass sich der wachsende Unmut der Bevölkerung an der Opposition festmacht. Und das gelingt nur, indem sie ihre Rivalen ausschalten.
In der anstehenden Präsidentschaftswahl sitzen inzwischen Erdoğans zwei stärkste Herausforderer im Gefängnis. Für den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu wurde vor zwei Wochen eine Haft von bis zu zweitausend dreihundertzweiundfünfzig Jahren beantragt. Kaum war dieser Schock verflogen, rückte der zweite aussichtsreiche Kandidat in den Mittelpunkt: Selahattin Demirtaş.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, dass seine Haft politisch motiviert ist und sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt wurde. Mit der Zurückweisung der türkischen Beschwerde wurde das Urteil rechtskräftig. Eigentlich hätte Demirtaş sofort freigelassen werden müssen. Doch Ankara ignorierte auch diese Entscheidung, so wie die Urteile aus den Jahren 2018 und 2020. Wer seine Freilassung erwartete, erlebte eine neue Wendung. Gegen Demirtaş wurde erneut Anklage erhoben, diesmal wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten, ein Tatvorwurf, der bis zu sieben Jahre Gefängnis bedeuten kann. So fand die Regierung einen weiteren Weg, das Straßburger Urteil zu umgehen und Demirtaş weiter festzuhalten.
Was könnte nun folgen? Naheliegend wäre es, die CHP, die in Umfragen als stärkste Partei erscheint und bei einer möglichen Wahl als Kandidat für die Regierungsübernahme gilt, als eine illegale Vereinigung zu diffamieren. Man könnte eine neue Parteiführung einsetzen, die der Regierung nicht widerspricht, oder sogar versuchen, die Partei ganz aufzulösen.
Unter solchen Bedingungen, unter Richtern, die den politischen Anweisungen folgen, unter Medien, die das Regime einmütig unterstützen, in einem Klima, in dem schon geringste Kritik mit Gefängnis beantwortet wird, in dem Herausforderer des Präsidenten inhaftiert und Oppositionsparteien mit Verboten bedroht werden und in dem die Regierung zudem die Möglichkeit hat, auf das Wahlverfahren Einfluss zu nehmen, wie lässt sich in einer solchen Situation ein Autokrat stürzen?
Diese Frage stellt sich nicht nur in der Türkei. Von den Vereinigten Staaten bis nach Ungarn, von Indien bis nach Aserbaidschan wird sie heute in vielen Ländern gestellt.
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